Abschlussarbeit von Dr. Stefan Rausch zum Theoriekurs BASIC

Warum unterrichten wir im WTU Wing Tsun Gruppenunterricht folgende vier Felder: FIGHT, GUILD, DRILL und HEALTH?

 

Vordergründig ist Wing Tsun eine Kampfkunst, entstanden im Vorderen Orient, die im Verlauf der Jahrhunderte verfeinert und über China und die USA ihren Weg nach Europa gefunden hat. WTU Wing Tsun ist in diesem Sinn natürlich auch eine Kampfkunst, aber vielmehr als nur dies. WTU Wing Tsun ist eine Einstellung zum Leben. 

 

Solange es den Menschen gibt, hat er immer versucht, seiner Existenz einen Sinn zu verleihen. Schon die frühesten Zeugnisse der Menschheitsgeschichte zeigen, daß der Mensch von jeher sein Wirken und Sein in der Welt reflektiert und zu erklären versucht. Das wichtigste Erklärungsmodell lieferte ihm die Religion, jene allumfassende Geschichte, die allen menschlichen Normen, Werten und Gesetzen eine übermenschliche Legitimation verleiht. Angefangen von den animistisch-schamanischen Religionen der Naturvölker, Jäger und Sammler über die polytheistischen Religionen des Altertums bis hin zu den großen monotheistischen Weltreligionen gab ihm die Religion Halt in der Welt. Für die Christen besteht der Sinn des Lebens darin, ein gottgefälliges Leben zu führen und mit harter körperlicher und spiritueller Arbeit Buße für den Sündenfall zu tun. Wenn es ein hartes, arbeitsames und entbehrungsreiches Leben war, dann war es ein gutes Leben. Der gottgefällige Christ arbeitete an sich selbst und die Werkzeuge hierfür waren Selbstkasteiung, Fasten, Beten und schwere, körperliche Arbeit („Ora et labora“ -arbeite und bete!).

Dadurch versuchte er, sich zu verbessern und Eingang ins Paradies zu finden. 

 

Doch dann betraten Kant, Rousseau und Voltaire die Weltbühne und vorbei war es mit der Glückseeligkeit. Die Aufklärung befreite den Menschen von den Ketten der christlichen Religion und stellte den Menschen in den Mittelpunkt. Gott war gestorben – der Humanismus geboren. Doch diese Freiheit bezahlte die Menschheit mit dem Verlust an spiritueller Sicherheit. Während vorher ein nahezu allumfassender Moralkanon der Kirche vorgab, was Gut und was Böse war, war der Mensch nun auf sich selbst zurückgeworfen und nur seinem inneren Selbst rechenschaftspflichtig. Das höchste Ziel eines humanistischen Lebens (genau genommen eines liberal-humanistischen Lebens; der soziale und der evolutionäre Humanismus hatten sicherlich andere Vorstellung von Idealen und Zielen im Leben) war nun, eine größtmögliche Anzahl an Erfahrungen zu sammeln. Verbesserung, Weiterentwicklung und Reifung durch Bildung waren das Gebot der Stunde. Der Mensch sollte durch unablässiges Studium der Natur und der Geschichte zur höchsten Vervollkommnung reifen. Auch wenn die Motivation und das Ziel ein anderes als in der christichen Religion war, sieht man, daß auch der Humanismus ein ständiges Arbeiten an sich verlangte. Die Werkzeuge hierfür waren Bildung und Studium (von lat. studere = sich bemühen).

 

Bewegung bedeutet Veränderung. Um sich weiterzuentwickeln, muß man sich verändern und um sich zu verändern, muß man sich bewegen. Nicht umsonst lautet das Motto des WTU Wing Tsun „we move people“. Aber sich zu verändern ist harte Arbeit an sich selbst. Erneut taucht dieses Leitmotiv der „harten Arbeit“ wie ein roter Faden im Gewebe der menschlichen Existenz auf. Und genauso, wie der fromme Christ des Mittelalters oder der Bildungsbürger des 19. Jahrhunderts einen Werkzeugkasten mit verschiedenen Werkzeugen für diese Arbeit an sich selbst zur Verfügung hatte, so stellt auch das WTU Wing Tsun Werkzeuge für diese harte Arbeit an sich selbst („Kung fu“ – harte Arbeit) zur Verfügung. Diese Werkzeige sind Fight, Guild, Drill und Health.

 

Im WTU FIGHT werden die erworbenen Bewegungskenntnisse der Siu Nim Tao, der Chum Kiu, der Wooden Dummy, Biu Tze, Langstock und Doppelmesser ( den traditionellen Waffen des Wing Tsun) in einer Kampfsituation angewandt. Dies ist aber nicht als mechanischer Prozess zu verstehen, sondern die WTU Wing Tsun-Bewegungsprinzipien werden dynamisch an die Situation angepasst. Je weiter sich ein WTU-Wing-Tsun-Kämpfer entwickelt, um so feiner, gezielter und gefährlicher werden die Bewegungen. Dies muß zwangsläufig mit einer Veränderung der Persönlichkeit einhergehen. Mit zunehmender Meisterschaft im WTU Wing Tsun müssen Charakter und Persönlichkeit reifen. Das Ego, das vielleicht vormals durch äußere Reize, auf die der Mensch sei es durch evolutionäre Prozesse oder durch Konditionierung, zum Kampf herausgefordert worden wäre, wird zusehends kleiner und verschwindet. Im FIGHT geht es darum, im Kampf zu bestehen. Vordergründiges Ziel ist es aber, durch Aufmerksamkeit,  Bewußtheit und Selbstbeherrschung erst gar nicht in eine gefährliche Situation zu gelangen.

 

Waffen spielen im WTU Wing Tsun eine zentrale Rolle. Im WTU Guild werden die Solo- und Partnerübungen mit den nicht traditionellen Waffen des Wing Tsun gelehrt. Die Waffen werden aber nicht als externes Element betrachtet, welches durch den Arm oder die Hand geführt wird, sondern sie können als Körpererweiterung interpretiert werden. Insofern können Waffen bzw. die Movements als komplementäre Ergänzung zu den waffenlosen Bewegungen angesehen und aufgrund ihrer organischen Natur auch ohne Waffen ausgeführt werden. Waffen verleihen der Gelenkskette, die die Energie aus dem Körper auf den Gegner überträgt, ein weiteres Gelenk. 

 

Im WTU Drill werden die Voraussetzungen für die erfolgreiche Anwendung der Bewegungen im Kampf gelegt. Neben den physischen Aspekten mit Muskelaufbau und Ausdauer werden auch psychologische Faktoren geschult und trainiert. Wie fühlt es sich an, von einem physisch stärkeren Gegner angegriffen zu werden? Oder von zwei Gegnern, wenn man mit dem Rücken an der Wand steht? In solchen Situationen Ruhe zu bewahren wird unter anderem im Drill trainiert. Auch dies bewirkt eine Veränderung. Durch das häufige „Durchspielen“ gefährlicher Situationen wird das Bewusstsein hierfür geschärft, intuitiv werden diese noch vor einer Eskalation erkannt und im besten Fall dadurch vermieden.

 

Mens sana in corpore sano – gesunder Geist in gesundem Körper. Das wussten schon die Römer vor über 2000 Jahren. Im WTU Health werden Übungen ausgeführt, die die Gesundheit, Beweglichkeit, Balance, Elastizität und Gewandtheit des Körpers fördern. Dehnungsübungen fördern die Beweglichkeit in den Gelenken, indem unnatürlich verkürzte Muskeln, Bänder und Sehnen wieder verlängert werden. Die Bewegungen der Snake of Fire lockern die Wirbelsäule, erhöhen ihre Beweglichkeit  und helfen, durch falsche Körperhaltung entstandene Schmerzen zu lindern. 

 

Leben heißt Bewegung, Bewegung heißt Veränderung. Wer sich nicht bewegt, verändert sich nicht, wer sich nicht verändert stirbt. „Stillstand heißt Rückschritt, Aufhören des Strebens geistiger Tod“ - dieses Konfuzius zugeschriebene Zitat ist von zeitloser Gültigkeit. 

 

Das WTU Wing Tsun hilft Menschen, sich zu bewegen, sich zu verändern, sich weiterzuentwickeln. Die Werkzeuge für die harte Arbeit an sich selbst sind FIGHT, GUILD, DRILL und HEALTH.

 

Dr. Stefan Rausch, Lübeck